Wer bin ich? - Was macht mich aus?

Beginnen möchte ich diesen Blog-Beitrag mit zwei ganz verschiedenen Versionen der Geschichten vom Adler, in denen es um unsere Selbstwahrnehmung geht. Was diese Geschichten so besonders macht, ist, dass wir mit ihrer Hilfe erfahren, was für ein machtvolles Instrument unsere Gedanken sind. Und wie unser Denken und Fühlen darüber bestimmt, wie wir uns letztlich sehen und fühlen.

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Die Geschichte vom Adler  - Version I

Einst fand ein Mann einen jungen Adler und nahm ihn mit nach Hause auf seinen Hühnerhof. Dort lernte der Adler bald, Hühnerfutter zu fressen und sich wie ein Huhn zu verhalten. Nach einigen Jahren erhielt der Mann den Besuch eines naturkundigen Menschen. Als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte dieser: “ Der Vogel dort ist kein Huhn, er ist ein Adler!“ “Ja“, sagte der Mann, „das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind.“ „Nein“, sagte der Andere. „Er ist immer noch ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauf fliegen lassen in die Lüfte.“ „Nein, nein“, sagte der Mann, „er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals wie ein Adler fliegen.“ Die beiden Männer kamen überein, diese Sache näher zu ergründen. Behutsam nahm der naturkundige Mensch den Adler in die Höhe und sagte: „ Du gehörst den Lüften, nicht der Erde. Breite Deine Flügel aus und fliege.“ Doch der Adler war verwirrt; er wusste nicht, wer er war und als er sah, wie die Hühner Körner pickten, sprang er hinab, um wieder zu ihnen zu gehören.
Unverzagt nahm ihn der naturkundige Mensch am nächsten Tag mit auf das Dach des Hauses und drängte ihn wieder: „Du bist ein Adler. Breite Deine Flügel aus und fliege.“ Doch der Adler fürchtete sich vor seinem unbekannten Selbst und sprang wieder hinunter zu dem Hühnerfutter. Am dritten Tag machte sich der naturkundige Mensch früh auf und nahm den Adler mit auf einen hohen Berg. Dort hielt er den König der Vögel hoch in die Luft und er munterte ihn wieder zu fliegen.
Der Adler schaute sich um, sah zurück zum Hühnerhof und hinauf in den Himmel. Noch immer flog er nicht. Da hielt der Mensch ihn direkt gegen die Sonne, und da geschah es: Der Adler begann zu zittern und breitete langsam seine Flügel aus. Dann endlich schwang er sich mit einem triumphierenden Schrei gen Himmel.
Es mag sein, dass der Adler vielleicht hin und wieder noch ein wenig Heimweh hat, wenn er an die Hühner denkt. Doch soweit irgend jemand weiß, ist er nie zurückgekehrt um das Leben eines Huhns wieder aufzunehmen. Er war ein Adler - König der Lüfte - obwohl er wie ein Huhn gehalten und gezähmt worden war.

Diese Version der Geschichte wird James Aggrey zugeschrieben.

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Gleichzeitig findet sich im Internet aber noch eine andere Fassung der Geschichte in Anlehnung an eine afrikanische Fabel. Der Verfasser ist leider unbekannt

Die Geschichte vom Adler – Version II

Ein Mann fand eines Tages ein Adlerei, nahm es mit nach Hause und legte es in das Nest einer ganz gewöhnlichen Haushenne. Ein kleiner Adler schlüpfte parallel mit ein paar Hühnerküken aus dem Ei und wuchs zusammen mit diesen auf. Sein ganzes Leben lang versuchte der Adler sich wie ein Huhn zu benehmen, was ihm aber nicht immer gelang. Manchmal fühlte er sich fremd unter all den Hennen. Doch ohne Zweifel, der Adler dachte, er sei ein Huhn wie alle anderen Hühner auf dem Hof. Er kratzte und scharrte in der Erde nach Würmern und Insekten. Er gluckte und gackerte halbwegs wie die anderen Hühner. Nur ab und zu hob er ein wenig seine Flügel und flog ein Stück über den Hühnerhof, ähnlich wie die anderen Hennen. Einmal jedoch, er hatte sich völlig vergessen, flog er plötzlich höher als je zuvor… höher als die anderen Hennen. Für einen kurzen Augenblick genoss er es, so hoch durch die Lüfte zu fliegen, für einen Moment lang begann er zu träumen und war glücklich.
Doch schnell bekam er es mit der Angst zu tun und kehrte zurück auf den Hof.
Die Jahre vergingen und der Adler wurde sehr alt, aber nicht glücklich. Eines Tages sah er einen herrlichen großen Vogel hoch oben am wolkenlosen Himmel seine Kreise ziehen. Anmutig und hoheitsvoll schwebte dieser beeindruckende Vogel in den Lüften, fast ohne seine riesigen, kräftigen Flügel zu schlagen. Der Hühnerhofadler blickte sehnsüchtig zu ihm empor und wusste gar nicht, warum dieser Vogel da oben ihn so tief berührte.
„Wer ist das?“ fragte er ganz aufgewühlt eine Nachbarhenne. „Ach, das ist der Adler, der König der Vögel“ gackerte die Henne. “Wäre es nicht schön, wenn wir auch so fliegen könnten?” fragte der Adler. “Das können wir nicht” sagte die Henne, „mit dem darfst du dich nicht messen. Er gehört dem Himmel. Doch du und ich, wir sind von anderer Art, wir gehören dem Boden. Wir sind Hühner“.
Der Adler schämte sich leise für den unbescheidenen Traum vom freien Flug und für dieses komische Gefühl in der Brust, das sich in ihm breit gemacht hatte. Ein Gefühl, soweit und luftig, so frei. So blieb der Adler das, wofür er sich hielt und starb eines Tages als Huhn unter Hühnern.
Sein Glaube an sich selbst hat ihn daran gehindert, seine wirkliche Bestimmung zu leben!

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Entspricht das, was wir über uns denken immer der Wahrheit?
Entspricht das, was wir von anderen über uns erzählt bekommen immer der Wahrheit?

Wollen wir die Wahrheit über uns herausfinden, dann gibt es nur einen Weg: Es gilt, sich freizumachen von den Überzeugungen und Glaubensmustern, die wir in unserem Denken mit uns herumtragen. Erst losgelöst von all dem eigenen und Generationen übergreifenden (transgenerationalen) Ballast entdecken wir unser eigentliches Sein und nähern uns unserer wahren göttlichen Essenz. Nur so erkennen wir, wer wir wahrhaftig sind und können aus dem Potential, das in uns angelegt ist, die beste Version von uns selbst erschaffen. Es gilt, unsere Möglichkeiten, Anlagen, Talente zu entfalten, statt die Kopie von Mutter, Vater, Großeltern ... zu sein. Nur so können wir erfahren, ob wir ein Huhn oder der Adler sind.

Dabei ist es wichtig, Menschen an unserer Seite zu haben, die an uns glauben, die jederzeit bereit sind, uns darin zu unterstützen, herauszufinden, wer wir sind. Die uns ermutigen unseren eigenen Weg zu gehen. Die uns helfen groß zu träumen und unserer Vision Flügel zu verleihen. Die uns im Glauben an uns selbst motivieren und stärken.

Egal ob wir uns für ein Dasein als „Huhn“ oder „Adler“ entscheiden: Beide sind gleichermaßen wichtig! Keines der Leben zählt im Vergleich mit dem anderen mehr. Worum es geht, ist unsere Einstellung, unsere Beziehung zu uns selbst. Um uns selbst annehmen und lieben zu können, müssen wir für uns selbst kostbar, wichtig und einzigartig sein. Wir sind hier, um uns selbst kennenzulernen und im Hinblick auf unser Bewusstsein zu wachsen.

Erkenne dich selbst! – Das ist auch heute noch immer das Ziel. Wichtig ist, dass wir uns nicht durch andere verunsichern oder uns gar von unserem Weg abbringen lassen. Jeder wird früher oder später der Stimme seines Herzens folgen, denn unsere eigene Wahrheit zu leben ist in uns angelegt. Jeder von uns ist unter einem ganz besonderen Stern geboren. Bringt Potential mit, das so einzigartig ist, dass nur er/sie dies leben kann. Es ist unsere Aufgabe, diese Gaben und Talente im Laufe des Lebens immer besser zu entfalten, um sie letztlich mit anderen, mit der Welt zu teilen. Erst dieses Miteinander, dieser Dienst am anderen gibt unserem Leben seinen tieferen Sinn, lässt es bedeutungsvoll und einzigartig werden. Das meint Selbstentfaltung & Selbstverwirklichung.  

Beides ist aber nur möglich, wenn wir in Beziehung mit uns selbst sind. Was uns dabei hilft, sind Zeiten der Ruhe und Stille. Zeiten des Rückzugs, der Meditation. Zeiten, in denen wir uns selbst Fragen stellen und auf die Antwort hören. Wir können über diese Fragen meditieren, mit ihnen aber auch spazieren gehen oder sie schriftlich beantworten. Ein anderer putzt währenddessen vielleicht die Fenster, die Wohnung, ordnet seinen Schrank. - Die Art und Weise wie wir dies tun ist egal. Entscheidend ist, uns die Zeit zu nehmen und vor allem den Mut zum Fragen zu haben. Zu Fragen wie:

Wer bin ich? – Was ist das Besondere/das Einzigartige an mir?

Was sind meine Fähigkeiten? - Was kann ich gut?

Was begeistert mich? – Was gefällt mir?

Was habe ich als Kind schon immer gerne gemacht?

Was ist das Besondere, bei dem mir mein Herz aufgeht?

Was ist meine Lebensvision? - Was sind meine Werte? – Was sind meine Ziele?

Wie sieht mein Leben in drei, in fünf, in zehn, in zwanzig Jahren aus?

Was sind meine Freizeitinteressen?

Wie gut kann ich mit mir alleine sein?

Was sind meine Bedürfnisse und Wünsche? - Wie erfülle ich sie mir?

Wie sieht die liebevollste Version meiner selbst aus? - Wie kann ich sie leben?

Was schätze ich an meiner Familie, meinem Partner, meinen Freunden?

Wer ist für mich da, wenn es mir einmal nicht gut geht?

Wie gehe ich mit Konflikten um?

Wie bewusst bin ich mir meiner Gefühle und Emotionen?

Wie bewusst bin ich mir meiner Gedanken und Worte/Kommunikation?


Die Beziehung zu uns selbst sollte die höchste Priorität in unserem Leben haben, denn keiner kann uns diese Beziehung ersetzen. Weder Kinder noch Partner. Und schon gar nicht die Arbeit. Wer sich eine wirklich gute Beziehung mit anderen wünscht, sollte mit sich selbst beginnen und sich selbst bester Vater/Mutter, Partner/Partnerin, Freund/Freundin sein. Erst wenn wir mit uns selbst aus ganzem Herzen verbunden sind, können wir die Herzen der anderen wirklich erreichen. Erst wenn wir uns selbst lieben, können wir auch die anderen wahrhaft lieben. Dann sind das keine der Liebe bedürftigen Beziehungen mehr, denn diese sind über kurz oder lang letztlich immer eine Form von Selbstbetrug. Sie helfen uns nicht auf Dauer glücklich, zufrieden und in Wertschätzung und Liebe mit uns selbst und mit dem anderen zu sein.

Wenn wir uns wahrhaftig lieben, dann ist es ganz egal, ob wir Adler oder Huhn sind, denn in beiden Fällen leben wir die liebevollste und beste Version von uns. In dieser prachtvollen Version können dann sowohl der Adler als auch das Huhn fliegen.

Doch wer auch immer wir sein wollen, wir müssen uns entscheiden.
Die Entscheidung kann uns keiner abnehmen. Irgendwann fordert uns unsere Seele auf, absolut ehrlich zu uns selbst zu sein und uns dessen bewusst zu werden, nach welchen Grundsätzen, Vorgaben und Idealen wir wirklich leben wollen. Wollen wir die Kopie unserer Eltern, Partner, Vorbilder usw. sein, oder wollen wir nach einem Leben ganz aus uns selbst heraus streben und unsere eigenen Qualitäten leben?

Was wollen wir von unserem Leben?
Was will ich Gott sagen, wenn er mich eines Tages fragt:
Was hast DU aus dem Geschenk Leben gemacht, das ich DIR gegeben habe?

Spätestens dann, wenn uns die Seele vor die Frage stellt Lebst du wirklich das Leben, das für Dich gedacht war?, dann gilt es innezuhalten, zur Ruhe zu kommen und sich die Zeit zu nehmen um sich noch einmal beherzt das Fundament anzuschauen, auf das wir das „Haus unseres Lebens“ gebaut haben.


In Licht & Liebe
Hermine Merkl